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BGH bemüht sich um Klärung des Sichtbarkeitskriteriums im deutschen Designrecht

Datum:

„What you see is what you get“ ist einer der zentralen Grundsätze des europäischen (und deutschen) Geschmacksmusterrechts. Insbesondere in Bezug auf Designs für Komponententeile eines komplexen Produkts (dh Teile, die in einem komplexen Produkt verwendet oder in ein komplexes Produkt eingebaut werden, z. B. eine Motorhaube), knüpft das EU-Geschmacksmusterrecht die Verfügbarkeit des Designschutzes an die Sichtbarkeit solcher Teile während des normalen Gebrauchs. Dieses „Sichtbarkeitskriterium“ hat im Designrecht eine enorme praktische Relevanz. Dennoch, der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) – trotz einiger nebensächlicher Bemerkungen in der neueren Ferrari Urteil (C-123/20) zu nicht eingetragenen EU-Geschmacksmustern – hatte noch keine Gelegenheit, spezifische Leitlinien dazu zu geben, wie „Sichtbarkeit“ zu beurteilen ist. Auf Vorlage (I ZB 31/20) des Bundesgerichtshofs (BGH) könnte nun ein unauffälliger Fahrradsattel Geschichte schreiben, indem er den EuGH veranlassen könnte, die Konturen des Sichtbarkeitskriteriums näher zu definieren.

Fakten

Das Gehäuse ist ein Scharnierschutz für die Unterseite eines Fahrradsattels.

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Auf Nichtigkeitsklage Dritter vor dem Deutschen Patent- und Markenamt wurde das Design vom Bundespatentgericht mit der Begründung für nichtig erklärt, es sei nicht sichtbar. Allerdings unterliegen nach EU-Recht Elemente eines komplexen Produkts grundsätzlich nicht dem Designschutz, wenn sie bei normaler Verwendung für den Endverbraucher nicht sichtbar sind. Die parallelen deutschen gesetzlichen Regelungen hingegen knüpfen den Designschutz an die Erkennbarkeit bei „bestimmungsgemäßer Verwendung“. Diese semantische Abweichung hat den BGH nun veranlasst, auf Berufung des Designinhabers den EuGH um nähere Hinweise zur Auslegung dieser Begriffe zu bitten.

Entscheidung

Da das Sichtbarkeitskriterium den Missbrauch von Designrechten für innenliegende Bauteile, insbesondere von Kraftfahrzeugen (z. B. die Kupplung), verhindern soll, hält der BGH eine weiter gefasste Sichtbarkeitsdefinition und damit einen engen Schutzausschluss für angemessen. Diese Auslegung stünde letztlich auch im Einklang mit Art. 26 Abs. 2 des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, der nur begrenzte Ausnahmen vom Designschutz zulässt. Es stellt sich nun die Frage, ob nur die vom Hersteller festgelegte bestimmungsgemäße Verwendung (Fahrradfahren) relevant ist oder der weiter gefasste Begriff der normalen Nutzung durch den Endverbraucher (einschließlich Transport und Aufhängen des Fahrrads). Im Gegensatz zum deutschen Geschmacksmusterrecht beziehen sich andere Übersetzungen der einschlägigen EU-Rechtsvorschriften, insbesondere die englische, italienische und niederländische Sprachfassung, auf den Begriff der „normalen Verwendung“, was für die zweite Auslegung sprechen könnte.

In diesem Zusammenhang hat der BGH dem EuGH folgende Fragen vorgelegt.

Erstens ist ein Bestandteil (dh der das Design verkörpert) eines komplexen Produkts bereits sichtbar, wenn es objektiv möglich ist, ein solches im eingebauten Zustand in dem komplexen Produkt zu sehen. Oder müssen bei der Beurteilung der Sichtbarkeit die konkreten Nutzungsbedingungen oder eine besondere Perspektive des Nutzers berücksichtigt werden?

Wenn die Antwort die zweite Option ist, bezieht sich die „bestimmungsgemäße Verwendung“ eines komplexen Produkts durch den Endbenutzer auf:

  • der vom Hersteller der Komponente/des komplexen Produkts definierte Verwendungszweck; oder
  • die übliche Verwendung des komplexen Produkts durch den Endverbraucher?

Welche Kriterien sind schließlich bei der Beurteilung zu berücksichtigen, ob die Verwendung eines komplexen Produkts durch den Endverbraucher eine bestimmungsgemäße Verwendung ist?

Eine Entscheidung des EuGH wird im Sommer 2022 erwartet.

Kommentar

Während dieser Fall auf den ersten Blick den Eindruck erwecken mag, nur aus der Kuriositätenkabinett des Designrechts zu stammen, offenbart ein genauerer Blick auf die Auswirkungen des Sichtbarkeitskriteriums auf Verletzungsfälle die möglichen Auswirkungen der anstehenden EuGH-Entscheidung. Denn das Prinzip der Reziprozität setzt voraus, dass nur am Designschutz beteiligte Merkmale – umgekehrt – am Schutzbereich des Designs teilhaben und überhaupt verletzt werden können. Wenn also ein charakteristisches Merkmal eines Geschmacksmusters bei normaler/bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar ist, darf eine Überschneidung eines solchen Merkmals – andererseits – nicht als Grundlage für einen Verletzungsanspruch herangezogen werden.

In diesem Zusammenhang verdeutlichen die folgenden Beispiele, dass die Definition des Sichtbarkeitskriteriums in vielen Situationen und Branchen eine Rolle spielen kann.

Fallbeispiel 1

Beansprucht wird ein Design für eine automatische Armbanduhr (Ansicht von oben und unten) mit einem einzigartig geformten (nicht rein technischen/funktionellen) Rotor (das Gewicht, das den Bewegungsmechanismus durch Bewegung am Laufen hält) als Teil des Uhrwerks, der durch das transparente Gehäuse sichtbar ist Unterseite der Uhr oder das Design wird nur für den einzigartig geformten Rotor beansprucht (siehe unten). Der Rotor (als Bestandteil eines komplexen Produkts) ist nicht sichtbar, wenn die Uhr getragen wird, er kann jedoch sichtbar sein, wenn die Uhr ausgestellt oder im automatischen Uhrenbeweger aufbewahrt wird (als Sammlerstück oder um die Uhr am Laufen zu halten, wenn nicht getragen). Das angegriffene Drittprodukt weist einen identischen oder sehr ähnlichen Rotor auf.

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(Foto: Dr. Gabriel Wittmann)

Darf sich der Designinhaber in einem Verletzungsverfahren auf Überschneidungen bzw. der Dritte auf Unterschiede im Rotordesign berufen?

Fallbeispiel 2

Ein Geschmacksmuster wird für einen einzigartigen Deckeneinbaulautsprecher beansprucht und die Geschmacksmustereintragung zeigt nur den Lautsprecher ohne die Abdeckplatte. Bei dem angegriffenen Drittprodukt handelt es sich um einen Lautsprecher mit identischer Innenausstattung, der zwingend mit einer Abdeckplatte verbaut wird, die die „rechtsverletzende“ Innenausstattung verdeckt.

Darf sich der Designinhaber auf Überschneidungen in der Innenausstattung berufen, die bei sachgerechter Montage dem möglicherweise verletzenden Produkt nicht anzusehen sind?

Quelle: https://www.worldtrademarkreview.com/federal-supreme-court-seeks-clarification-visibility-criterion-in-german-design-law

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